• Künstliche Intelligenz & das Absurde Teil III

Künstliche Intelligenz & das Absurde Teil III

Wie kam das Absurde in die Welt?

Mein Hinweis darauf, dass wir vollkommen dazu übergegangen sind, nur die Rationalität unseres Denkvermögens als getreuen Spiegel des Menschen der Gegenwart anzuerkennen und den Grund für diese Hinwendung finden zu wollen, führte bislang zurück in die Zeit des „Lateinischen Mittelalters“. Dessen Sprache und Denkkategorien prägten über 1200 Jahre die Struktur aller Formen des kulturellen Lebens dieser großen europäischen Epoche. Die rationale Struktur der lateinischen Sprache formte das Denken der Menschen entscheidend und zwar noch bis in unsere Zeit hinein. Ein markantes Beispiel dafür ist unsere gesamte Rechtsprechung. Sie beruht nach wie vor auf römisches Rechtsdenken, obwohl es durchaus auch die Möglichkeit gegeben hätte, sich auf ein existierendes Germanisches Recht zu beziehen, welches viel mehr von einer bildhaften und präventiven Rechtssicht geprägt ist und weniger von einer rein kausalen. Die Offenheit und Weite des Bildhaften konnte sich jedoch nicht durchsetzten gegenüber dem schlussfolgernden kausalen Prinzipien römischer Rechtslehren. Dessen Handeln aus dem Gegenüber von Ursache und Wirkung eines jeweiligen Falles, bzw. dessen Kausalitätsprinzip wurde dann später vor allem im Denken und Handeln der Naturwissenschaften bestimmend. Dort entwickelte sich in der Forschung eine rein kausal-mechanistisch orientierte Vorgehensweise, die sich aktuell wieder in der KI Debatte niederschlägt. Das ist jedoch nur eine, womöglich aber die entscheidendste Seite unserer Lebenswirklichkeit.

Dieser Wirklichkeit steht ein vollkommen anders geartetes Lebensgefühl der Menschen gegenüber, welches sich dem rein kausalen Zugriff verschließt und worauf ich bereits früher hinwies: das ist der Raum einer seelisch geistigen Innerlichkeit eines sich selbst gestalten wollenden schöpferischen Menschen. Ist der abschließende gesicherte Beweis einer Tatsache das angestrebte Ziel rationalen Denkens, so gibt es diesen Beweis nicht im Raum der sich ständig selbst neu entdeckenden, neu erlebenden und neu entwerfenden Innerlichkeit im Zentrum des Menschen. Hier herrscht die Idee der Unendlichkeit vor! Sie durchwebt und führt den Menschen mehr als er es vielleicht bewusst (rational!) zulassen würde, denn es erscheint ihm risikobehaftet und ist nicht bequem.

In diesem Zusammenhang möchte ich an einen der Begründer des Renaissance/Humanismus erinnern, Pico della Mirandola (1463 -1494), welcher in seiner Schrift: „Über die Würde des Menschen“ Gott zu dem Menschen folgendes sagen lässt:

Nicht himmlisch, nicht irdisch haben Wir dich erschaffen. Denn du sollst dein eigener Werkmeister und Bildner sein und dich aus dem Stoffe, der dir zusagt, formen.“

Dass es diesen Raum der Innerlichkeit im Zentrum des Menschen gibt, geht in der Tradition des europäischen Denkens auf Erkenntnisse der vorsokratischen griechischen Philosophen Pherékydes von Syros (geb. 584 – 581 v. Christus) und Pythagoras (um 570 – 490 v. Christus) zurück. Pythagoras war wahrscheinlich ein Schüler des Pherékydes. In der europäischen Kultur gilt Pythagoras als der erste Vertreter der Auffassung, dass die Seele des Menschen unsterblich sei und damit Unendlichkeit habe. Aus dieser Überzeugung entwickelte er das Konzept der Seelenwanderung und hielt dieses Konzept von Unendlichkeit in einer Lehrschrift fest.

Vielen gilt Pythagoras ebenfalls als Entdecker einer Harmonielehre. Deren Fundament verlegte er auf zwei Ebenen:

Diejenige eines Freundschaftskonzeptes, welches das Ideal universaler Freundschaft und Harmonie zum Inhalt hat. In herrlicher Klarheit lehrte er

  • die Freundschaft aller mit allen;
  • Freundschaft der Götter mit den Menschen durch Frömmigkeit und wissender Verehrung;
  • Freundschaft der Lehren untereinander und überhaupt Freundschaft der Seele mit dem Leibe;
  • Freundschaft des Vernunftbegabten mit den Arten des Vernunftlosen durch Philosophie und die ihr eigene geistige Anschauung;
  • Freundschaft der Menschen untereinander;
  • Freundschaft unter Mitbürgern durch Gesetzestreue, die den Staat gesund erhält;
  • Freundschaft Verschiedenstämmiger durch richtige Naturerkenntnis (A. des A. = Wirklichkeitswahrnehmung);
  • Freundschaft zwischen Mann und Frau, Kindern, Geschwistern und Hausgenossen;
  • Freundschaft des sterblichen Leibes in sich selbst, Befriedung und Versöhnung der einander entgegen wirkenden Kräfte, die in ihm verborgen sind.

Seine Idee des gemeinsamen Gutes der Freunde schloss den Privatbesitz dennoch nicht aus, aber Pythagoras wandte sich mit aller Härte gegen Luxus und lehrte die einfache, frugale Lebensweise. (aus: Lamblichos; De vita Pythagorica, S. 229 – 230; Cornelia J. de Vogel: Pythagoras and Early Pythogoreanism, Asse 1966, S. 233)

Darin zeigt Pythagoras sich als Philosoph und ich habe bewusst diese Lehre hier aufgenommen, weil sie mir für unsere Zeit modern und passend erscheint.

Jedoch allgemein bekannter ist er als Kosmologe und Mathematiker. Als solcher entwickelte er die zweite Ebene, in der es ihm darum ging, das Verhältnis symbolischer Beziehungen zwischen Zahlen und Tönen zu finden, um daraus ebenfalls eine Harmonielehre zu entwickeln. Damit wollte er den musikalischen Klang in das Gebäude seiner Kosmologie einordnen. Er ging dabei empirisch vor und bediente sich des sogenannten Monochords.

Ursprünglich ist das Monochord eine musikinstrumentähnliche allerdings physikalische Apparatur, die aus einem Resonanzkasten besteht, über dem der Länge nach eine einzige Saite gespannt ist. Sein Name leitet sich aus dem griechischen ab: monos = einzeln; chorde = Saite. Oder vom lateinisch: canon, für Maßstab.  Weitere Ausführungen würden an dieser Stelle zu weit führen. Empfehlenswert wäre hier ein Selbststudium.

Seine Freundschaftslehre, sowie seine Harmonielehre, dienten dazu, „Misstöne“ auszuschalten. Misstönendes war widersinnig und damit absurd.

Zweitausendjahre nach ihm schrieb der Astronom Johannes Kepler (1571 – 1630) „Fünf Bücher zur Harmonik der Welt“: „Harmonice Mundi“ (Die Himmlische Harmonie). Er ordnete die Planetenbahnen nach musikalischen Harmonien, welche Gott im Sonnensystem verewigte: Die bis in unsere Zeit gültigen 3 Keplerschen Planetengesetzte. In der modernen Astronomie nennt man es das anthrophische Prinzip. Es besagt, das Universum ist, wie es ist, weil wir sonst nicht da wären, um es zu beobachten. Es enthält alle Eigenschaften, die dem Beobachter ein Leben ermöglicht. Wäre es nicht für die Entwicklung bewusstseinsfähigen Lebens geeignet, so wäre auch niemand da, der es beschreiben könnte. Das anthropische Prinzip ist unter Physikern höchst umstritten und steht immer unter kontroverser Diskussion.

An dieser Stelle möchte ich als Künstlerin daran erinnern, dass in der Rezeptionsästhetik immer davon ausgegangen wird, dass Bild und Betrachter sich gegenseitig bedingen. Der Betrachter erschafft das Bild und das Bild erschafft den Betrachter.

Eine Textstelle aus der Harmonielehre Keplers möchte ich hier zitieren, weil sie auf einen Raum im Menschen hinweist, welchen ich als den Seelenraum bezeichne und in dem andere Seinsweisen herrschen als in unserer dreidimensionalen Weltordnung.

„Erkennen heisst, dass äusserlich Wahrgenommene mit den inneren Ideen zusammenzubringen und ihre Übereinstimmung beurteilen, was man sehr schön ausgedrückt hat mit dem Wort „Erwachen“ wie aus einem Schlaf. Wie nämlich das uns aussen Begegnende uns erinnern macht an das, was wir vorher wussten, so locken die Sinneserfahrungen, wenn sie erkannt werden, die intellektuellen und ihnen vorhandenen Gegebenheiten hervor, so dass sie dann in der Seele aufleuchten, während sie vorher wie verschleiert in potentia dort verborgen waren.“

Hierzu möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser darauf richten, in welch großen Zeiträumen wir die Entwicklung der Menschheit begreifen lernen müssen, um zu Urteilen fähig zu sein. Beispielsweise komponierte noch Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) seine Musik aus einer kosmologisch orientierten Weltsicht, die sich erst nach seinem Tode vor allem durch seine Söhne in eine irdisch orientierte Musik wandelte.

Bei Kepler wird deutlich, wie die Aussenwelt in der Seele des Menschen aufleuchtet. Die Griechen verwendeten dafür den Begriff „nous“ und verstanden darunter das Vermögen der rein geistigen Wahrnehmung als den edelsten Teil der drei Seiten der Seele: die harmonisch ordnende Weltkraft zu Glück, Heil und Vollkommenheit.

Die Klangwelt ist die Welt, die mit dem Gefühl und nicht mit dem Verstandesdenken wahrgenommen wird. „Der Klang als die Logik der Seele“ (Martin Rabe) gilt als das oberste Erkenntnisvermögen, wodurch die Verstandesbegriffe überhaupt erst zu einem in sich geschlossenen Ganzen der Erkenntnis verbunden werden können. Das alles kann nur durch überschreiten von Wirklichkeitserfahrung möglich sein.

Wie kann man das verstehen?

Die Außenwelt erfahren wir im Erleben. Dort treffen sinnliche Wahrnehmung und geistige Realität (das Seelische) aufeinander. In diesem Prozess werden die Qualitäten des Wirklichen dem einzelnen Subjekt erfahrbar: Das Nichtmessbare: das Gefühl! Es entspringt aus der Logik der zum Klang gebrachten Seele. Ihr rein instrumentaler Klangcharakter ist von Unendlichkeit geprägt im Gegensatz zur klar geprägten Logik des Verstandes. Die Notwendigkeit, auf diesen inneren Klang zu hören, forderte der Maler Wassily Kandinsky (1866 - 1944) immer wieder auf seinem Weg zur Abstraktion in der Kunst. Er zieht die Formen der Kunst aus den bis dahin gültigen Naturformen ab und findet eine neue Formenwelt im Klangraum seiner Seele. Dort eröffnen sich für ihn ganz neue Dimensionen des künstlerischen Schaffens, in welchem nun auch das sich Widersprechende, die Dissonanz als die neue Konsonanz verbinden lässt, wie er begeistert an seinen Freund dem Komponisten, Arnold Schönberg, schrieb.

Dasjenige, was Pythagoras noch als widersinnig und absurd ablehnte, nämlich die Disharmonie, wurde gleichsam zur Harmoniefähigkeit seelisch neu aufgearbeitet.

Und nun zurück zu meiner Frage: Wie kam das Absurde in die Welt? Wodurch wurde der Boden vorbereitet, dass das Absurde als solches Akzeptanz fand im künstlerischen, philosophischen und mittlerweile auch im naturwissenschaftlichen Denken?

Die Antwort ist vielleicht verblüffend: die Christliche Lehre ist die Quelle des Absurden, Absurdes erleben und verstehen zu können! Aus dieser Quelle floss außerdem ein dem Absurden verwandter Begriff: das Numinose! Darauf komme ich später zurück.

Nach dem völligen Zerfall der antiken Kultur um 500 nach Christus trat das Christentum dessen Erbe an und aus dem Römischen Reich wurde das Heilige Römische Reich. Kirchenlehrer übernahmen die geistig religiöse Führung. Für mein Thema möchte ich mich zwei von ihnen zuwenden: das ist der Lehrer Quintus Septimus Florenz Tertullianus (kurz: Tertullian). Er wurde ca. 160 nach Christus in Karthago (heute Tunesien) als Sohn eines römischen Soldaten und somit als Heide geboren. Er trat zum Christentum über und starb vermutlich um 220 nach Christus. Er war der erste, welcher die christliche Lehre in lateinischer Sprache abfasste. Von ihm stammt der folgenreiche und berühmte Satz:

Gekreuzigt wurde der Gottessohn; das ist keine Schande, weil es eine ist; und gestorben ist der Gottessohn; das ist glaubwürdig, weil es ungereimt (lat. ineptum est = Unsinn); und begraben ist er auferstanden; das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.“

 Der Wiener Kabarettist und bedeutende Kulturhistoriker, Egon Friedell (1878 – 1938), schreibt dazu in seinem Werk: „Kulturgeschichte der Neuzeit“, S. 92 – 93, „… genau dies war die „Physik“ des mittelalterlichen Menschen: für ihn war das Wunder das eigentlich Wirkliche, die natürliche Erscheinungswelt nur der blasse Abglanz und wesenlose Schatten einer höheren, lichteren und wahreren Geisteswelt. Kurz: er führte ein magisches Dasein.

… die Nähe wurde erfühlt im Glauben. Er war der feste, unverrückbare Grundstein, während die Erkenntnistheorie der Neuzeit von der Ratio ausgehend ebenfalls im Glauben mündet.

… die Welt ein Phänomen des Glaubens: an diesem Elementarsatz hat wohl kaum ein mittelalterlicher Mensch jemals gezweifelt. Man hatte eben die Lehre Jesu voll begriffen, deren Kern in der ernsten und einfachen Mahnung besteht, zu glauben; nicht daran zu zweifeln, dass diese Welt ist und das sie ein Werk Gottes ist; das alles ist, auch das Geringste und Niedrigste: die Ärmsten und Einfältigsten, die Kinder, die Sünder, die Lilien und Sperlinge; dass dies alles ist, wenn man daran glaubt oder, was dasselbe ist, wenn man es liebt.

… wohl lebt und webt alles in Gott und fühlt sich in ihm geborgen; aber wie ihm genügen? So liegt die mittelalterliche Seele vor uns.

Mit der Mitte des 14. Jahrhunderts betritt eine ganz anders geartete Menschheit die Szene. Die Welt ist fortan nicht mehr ein Gott gewolltes Mysterium, sondern eine menschengeschaffene Rationalität.“

Der zweite Kirchenlehrer ist Anicius Manlius Severinus Boethius (geb. um 480-85? Gestorben um 524 nach Christus in Pavia), ein spätantiker Gelehrter, Politiker, neuplatonischer Philosoph und Theologe. Durch seine Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische wurde er der wichtigste Vermittler der griechischen Logik, Mathematik und vor allem Musiktheorie. Sein Werk „De Institutione Musica“ (Einführung in die Musik) greift auf die Harmonielehre des Pythagoras zurück (nach 1000 Jahren!).

 Boethius

Anicius Manlius Severinus Boethius (geb. um 480-85? Gestorben um 524 nach Christus in Pavia)
Quelle: art_prints_on_demand.com

Interessant für meine Suche nach dem Absurden ist der Umstand, dass Boethius als Verkünder des Wortes Gottes und seines Sohnes Jesus Christus, als heiliggesprochener Kirchenlehrer und Märtyrer am Tag seiner Hinrichtung durch den Gotenkaiser, Theodrich des Grossen, die Rettung seiner Seele nach dem Tode nicht in die Hände von Jesus Christus legte, das war ihm zu irrational, sondern ausdrücklich in die Hände Platos und Aristoteles. Damit setzte er deren rationale Philosophie über jene christlich absurde Weltsicht eines Tertullian. Er suchte Trost in den abstrakten Lehren des griechischen logischen Verstandes. Das Absurde bot ihm keinen Trost.

Hier treffen zwei Welten innerhalb der frühen christlichen Lehre auf: die Welt aus dem Glauben des Widersinnigen (Absurden) und die Welt aus dem rationalen Verstandesdenken. Bis in unsere Zeit leben diese wie zwei Pole wirkenden Kräfte in uns weiter und führten zu vielfältigen theologischen-, philosophischen-, und auch naturwissenschaftlichen Erkenntnisschritten und Debatten unter den Gelehrten. Doch es gibt auch eine reale Welt des Nichtrationalen, welcher mindestens die gleiche Bedeutung zukommt wie dem in der Gegenwart vorherrschenden rationalen Weltverständnis. Vielleicht liegt in ihr sogar eine bedeutendere Kraft der Erkenntnisfähigkeit der Menschen?

Benötigen wir nicht beide Welten und vergaßen dies? Kennen wir nicht das schaurig-schöne Gefühl? Etwas Absurdes?

Der deutsche protestantischer Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869 – 1937) prägte in seinem Hauptwerk „Das Heilige“, im Jahre 1917, den Begriff des „Numinosen“ für die Anwesenheit eines absolut transzendenten gestaltlosen Göttlichen. Das Wunder des Seins losgelöst von allen Assoziationen, die von Wörtern der natürlichen, meinenden Sprache ausgehen. Das Numen ist nicht beschreibbar, steht außerhalb der menschlichen Realität für die Sphäre des Heiligen und ist jedoch trotzdem verbunden mit dem Denken und Handeln der Menschen: Schauer und Anziehung. Absurd?

Kein Werk der protestantisch orientierten Religionswissenschaft wurde seitdem in so viele Sprachen übersetzt und gilt bis heute als ein Fundament der christlichen Lehre.

 Rudolf Otto

Rudolf Otto (1869 - 1937)
Quelle: Wikipeadia.com

Er entlehnte die Bezeichnung dem lateinischen „numen“, was so viel bedeutet, wie göttlicher Wille; göttliche Majestät; eine von der Gottheit ausgehende Kraft. Er schreibt über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und dessen Verhältnis zum Rationalen, über die Spannung zwischen etwas Abgründigen und etwas Faszinierenden; was erschüttert und beglückt; was einen beseeligt und gleichermaßen verstört. So entsteht in der Mitte zwischen dem Faszinierendem und Erschütterndem, das Erlebnis des Heiligen durch die Fügung der Logik der Seele, die Kraft des Glaubens. Otto spricht in diesem Zusammenhang vom „Mysterium Tremendum“ und „Mysterium Fascinosum“, welches beides immer zusammen auftritt und das Erleben des Numinosen in uns weckt.

Ich erkenne darin einen Beweis für die nicht hintergehbare Existenz des Absurden und dessen kulturschaffende Kraft.

Um vielleicht zu einem noch besseren Verständnis dessen zu führen, was Otto bereits klar niederschrieb, möchte ich auf ein Beispiel aus der bildenden Kunst zurück greifen. Die Kunst gilt ja als etwas Irrationales.

Es ist der sogenannte „Isenheimer Altar“ des Malers Matthias Grünewald, (1470/74 – 1528), welcher im Museum Unterlinden in Colmar aufbewahrt wird.

 Isenheim Altar

„Isenheimer Altar“ des Malers Matthias Grünewald, (1470/74 – 1528)
Quelle: Etsy.com

Im Vergleich zu den Formen der Natur, in welcher immer ein harmonisches Prinzip bestimmend ist – ich erinnere an Pythagoras und Kepler – gibt es in künstlerischen Darstellungen noch eine weitere Möglichkeit. Sie vermag Harmonisches mit Disharmonischem, das Hässliche in ein und demselben Werk zu verbinden. Auf diese Weise des Zusammenfügens des Schönen mit dem Hässlichen entziehen sich die Bildelemente der Begreifbarkeit des Verstandes und führen vermittelnd zwischen irdischer und himmlischer Welt zur einer neuen numinosen im Denken und Fühlen verbundenen Welt: Schauer und Anziehung! Dieser Christus am Kreuz ist wohl zum Symbol des schmerzlichen Kreuzestodes schlechthin geworden und dennoch „schön“ und zwar durch seine versprochene Auferstehung durch das Dunkel des Todes hindurch.

Diese neu geschaffene, kommensurabele (vergleichbare) Seinssphäre in einer völlig neuen und ganz anderen Beziehung zu Begriffen, moralischen Prinzipien und positiven Religionen erscheint das Göttliche über die Darstellung des Irrationalen (Absurden) in seinem Verhältnis zum Rationalen: Spannung zwischen etwas Abgründigem und Faszinierendem. Es erschüttert und beglückt. Ich erinnere an die Worte Tertullians!

Die alles durchwebende Absurdität des Geschehens erhält noch eine Betonung durch den anatomisch überlängten Zeigefinger des Johannes: Ein Finger, welcher alles besagt, den es jedoch in Wirklichkeit so nicht gibt. Er ist absurd. Die Logik unseres seelischen Klangerlebens lässt uns das verstehen. Ein von Unendlichkeit geprägtes Verstehen. Unendlichkeit ist die dem Menschen inne wohnenden Idee: das Dauernde.

 Isenheimer Altar Detail

„Isenheimer Altar“ des Malers Matthias Grünewald, (1470/74 – 1528) – der anatomisch überlängten Zeigefinger des Johannes
Quelle: Offenburger Tagblatt

An die Materie gebunden ist die Endlichkeit der Maschine und in unserem Falle die maschinelle Intelligenz. Darauf werde ich im folgenden Essay weiter eingehen vor allem in der Beziehung des Theaters zum Absurden, welches anlässlich einer Aufführung in einer französischen Schule, am Abend des 10. Dezember 1896, seinen Neuanfang hatte. Hier zeigten die Schüler, die Kinder, dass sie noch offen sind für das Widersprüchliche.

Dazu zitiere ich noch einmal Egon Friedell, welcher sich beim Einzug Hitlers in Wien aus dem Fenster zu Tode stürzte:
„… denn in der Tat erscheinen den Kindern gerade die ungereimten Dinge als die Glaubwürdigsten, die Unmöglichsten als die Gewissensten: sie bringen einem Märchen viel mehr Vertrauen entgegen als einer nüchternen Erzählung und halten überhaupt alle Phänomene, die den Gang der natürlichen Kausalität durchbrechen nicht nur für die Höheren, sondern auch für die Realeren. Genau dies war auch die „Physik“ des mittelalterlichen Menschen.

… wir müssen uns fragen, ob ihm (A. des A. dem Menschen des Mittelalters) hier nicht eine tiefere, obschon dunklere Erkenntniss leitete und er nicht der Wurzel des Geheimnis näher war als wir…“

Heute erscheint den Kindern unsere Welt auf Bildschirmen oder Handys und befüllen so ihre Fantasie. Was Friedell wohl dazu sagen würde?

 Egon Friedell

Egon Friedell (1878 - 1938)
Quelle: clivejames.com

Text: © Sibylle Laubscher & Martin Rabe